Raus aus der Gewalt

Sie findet zu Hause statt, hinter verschlossenen Türen, ohne Zeugen, außer den Kindern, die sie direkt oder indirekt sehen, hören, fühlen. Häusliche Gewalt ist noch immer ein Tabuthema. Mit dem TV-Movie „Die Ungehorsame“ hat SAT.1 darauf aufmerksam gemacht und auch international Anerkennung bekommen.

Nach drei Monaten im Frauenhaus eine eigene Wohnung, eine richtig schöne sogar – Monika ist glücklich, sie hat es geschafft. Endlich Ruhe nach 38 Jahren Ehe, die immer mehr zur Hölle wurde. „Die Gewalt kam schleichend. Als er auch noch zu trinken anfing, wurde es immer schlimmer. Von früh bis abends nur „du Drecksau“, sagt sie. Freunde, Familie, nachbarschaftliche Kontakte — Fehlanzeige; selbst vom Tod ihrer Mutter erfuhr sie erst aus der Zeitung. „Es kam niemand mehr, weil er sich so unmöglich aufführte, ich war völlig isoliert.“ Ihre Berufstätigkeit hatte sie nach einem schweren Unfall aufgeben müssen, zu den Schmerzen gesellte sich die ständige Angst, „dass er mir was antut“, ein körperlicher Angriff sie endgültig an den Rollstuhl fesseln könnte. Als ein erneuter Streit zu eskalieren drohte, rief sie schließlich die Polizei – und kontaktierte das Frauenhaus, dessen Telefonnummer sie schon seit langem mit sich herumtrug.

Szene aus dem Film "Die Ungehorsame" (Foto)

Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000-116016

Jede zweite Frau in Deutschland hat psychische Gewalt erfahren

Sie findet in der Villa am Stadtrand ebenso statt wie in der Sozialwohnung, existiert quer durch alle Schichten, ist unabhängig vom Bildungsniveau: Häusliche Gewalt ist die am häufigsten vorkommende Gewaltform in Deutschland und eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen weltweit. Jede fünfte Frau in Deutschland hat körperliche Gewalt durch einen Partner erfahren, jede Zweite erlebte eine Form der psychischen Gewalt. Nur 11 Prozent der Frauen meldeten den Vorfall der Polizei, so das Ergebnis einer 2014 veröffentlichten Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte.

Die Frage liegt nahe: Warum hast du dich nicht sofort getrennt? „Außenstehende denken immer, Trennung ist die Lösung, aber das ist ja gar nicht sicher. Gerade wenn es gemeinsame Kinder gibt, ist es sehr, sehr schwer“, weiß Katja Grieger, Psychologin und Pressesprecherin beim Bundesverband Frauen gegen Gewalt. Und nicht zuletzt auch gefährlich: Das Risiko, Opfer eines Tötungsdelikts zu werden, steigt während Trennungsphasen um das Fünffache.

Isolation: Kontakte mit Nachbarn und Freunden brechen ab

Auch Miriam kennt die Frage, die so leicht über die Lippen geht. Die alle Bemühungen, innerhalb der Beziehung der Gewalt ein Ende zu setzen, unterschwellig als Zeichen von Passivität und Schwäche wertet. Die ignoriert, was es heißt, auf Schritt und Tritt kontrolliert zu werden, sozial isoliert und oft auch finanziell abhängig zu sein.

»ES HÄTTE MIR DOCH KEINER GEGLAUBT.«

Leonie (Felicitas Woll)
Szene aus dem Film "Die Ungehorsame" (Foto)
Die Ungehorsame

Ein zuschnurrendes graues Gartentor, im Eingang ein Aubergine-Ton, den Leonie Keller liebt und den ihr Mann als „ein bisschen gewagt“ bezeichnet: Die destruktive Beziehungsstruktur lauert im SAT.1-Film „Die Ungehorsame“ von Anfang an im Hintergrund. Auf dem Filmplakat, das der frischgebackene Ehemann beim Einzug ins gemeinsame Haus präsentiert, reduziert sie sich auf vier knappe Zeilen. Ihre künftige Rolle ist „Das Goldstück“ und er, Alexander, führt dabei Regie. Erst Goldstück, dann „notgeile Schlampe“: „Gewalt beginnt immer mit Entpersonalisierung. Wenn eine Frau nicht mehr als menschliches Wesen wahrgenommen wird, sinkt die Hemmschwelle enorm“, verdeutlicht Drehbuchautor Michael Helfrich.

Szene aus dem Film "Die Ungehorsame" (Foto)

Die Resonanz auf „Die Ungehorsame“ ist noch immer enorm: Der im März 2015 erstmals ausgestrahlte Film (Regie: Holger Haase; Produzent: Ivo-Alexander Beck, Ninety Minute Film) wird bei zahlreichen Beratungs- und Bildungseinrichtungen wie etwa der medizinischen Fakultät der Hochschule Hannover als Lehrfilm eingesetzt, weiß Helfrich. Noch mehr überrascht ihn freilich dessen unmittelbare Wirkung: „Bei den Wiesbadener Krimiwochen kam eine Frau aus dem Publikum auf mich zu, und erzählte, dass der Film ihr die Kraft gegeben habe, sich nach 30 Jahren Ehe zu trennen.“

Die authentische Umsetzung des Themas erhielt national wie international große Anerkennung. Mit Felicitas Woll, die für ihre Darstellung der Leonie mit dem Bayrischen Fernsehpreis 2015 ausgezeichnet wurde, und Marcus Mittermeier prominent besetzt, begeisterte „Die Ungehorsame“ nicht nur die meisten Zuschauer beim 3sat-Publikumspreis 2016 sowie beim Krimifestival in Baden-Baden, sondern erhielt neben einer Nominierung für den Grimme-Preis 2016 auch die Goldmedaille beim New York Film Festival in der Kategorie „World’s Best TV & Films“.

2008 war sie nach Deutschland gekommen, Liebe, materiellen Wohlstand hatte ihr Mann ihr versprochen, doch „es war alles Lüge, von Anfang an“. Als er sie zum ersten Mal schlug, war sie im zweiten Monat schwanger – wie Studien zeigen, sind Schwangerschaft und Geburt sehr häufig Auslöser für den Ausbruch von Gewalt durch den Partner. „Ich wollte mich scheiden lassen, aber meine Familie hat mich überredet weiterzumachen“, sagt sie. Drei Jahre später kam das zweite Kind, Kontakte mit Freunden und Nachbarn waren da längst verboten, Demütigungen und Beschimpfungen mittlerweile normal. Ebenso, dass er „sich nimmt, was er will“ und austeilt — mit Fäusten, Füßen und Schuhlöffel. Sie hat sich gewehrt, ließ ihn nicht definieren, wie sie sich selbst zu sehen habe. „Willst du Streit“, habe sie ihn schließlich immer gefragt — und die Kinder zur Nachbarin geschafft.

»KONTROLLE UND BEHERRSCHUNG SIND DER KERN EINES GEWALTVERHÄLTNISSES.«

BARBARA KAVEMANN

Viele Täter beherrschen die Schuldumkehr perfekt

„Wer schlägt, muss gehen“, lautet der Tenor des 2002 erlassenen Gewaltschutzgesetzes, das der Polizei die Möglichkeit gibt, den Täter der Wohnung zu verweisen. Doch dass Gewalt gegen Frauen in einer Beziehung nicht erst mit Tritten und Hieben beginnt, wurde durch den plakativen Slogan stark in den Hintergrund gedrängt. „In der öffentlichen Diskussion wie auch in der Unterstützungspraxis ist die körperliche Gewalt das zentrale Thema. Dabei geht unter, dass Kontrolle und Beherrschung der Kern eines Gewaltverhältnisses sind“, kritisiert Barbara Kavemann, Soziologin und Professorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Einen „zu starken Fokus auf physische Gewalt“ konstatiert auch Roland Hertel, Diplom-Sozialarbeiter und Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt: „Die psychische Gewalt wird auch von professionellen Diensten, von Behörden und Jugendämtern nicht so wahrgenommen und gewertet, wie sie es eigentlich müsste“, sagt er. „Wichtig ist, dass sehr früh schon reagiert wird, damit eine Chance auf Änderung besteht.“

„Es hätte mir doch keiner geglaubt“ — der Satz, den Leonie im SAT.1-Film „Die Ungehorsame“ zu ihrer Anwältin sagt, bringt die Ängste misshandelter Frauen auf den Punkt. „Die Täter beherrschen es hervorragend zu bagatellisieren und zu manipulieren, nicht nur das Umfeld sondern auch die Behörden“, weiß Hertel. „Die geben sich dort völlig angepasst, stimmen dem Berater zu, um sich im guten Licht darzustellen oder suggerieren, für Frau und Kinder ja nur das Beste zu wollen.“ Und was sie ganz hervorragend können, ist die Schuldumkehr. „Warum tut sie mir das an, dass ich sie immer wieder schlagen muss“, ist ein Satz, der selbst Hertel sprachlos machte.

Nicht selten bekommen gewalttätige Partner sogar das Umgangs- und Sorgerecht. Der Frankfurter Professor und Familienrechtler Ludwig Salgo führt in seinen Vorträgen zahlreiche umstrittene Entscheidungen von Jugendhilfe oder Justiz an. So etwa, dass ja „nur“ gegen die Mutter Gewalt ausgeübt worden sei oder der an die Mutter adressierte Satz einer Richterin, dass man ihr „mit häuslicher Gewalt gar nicht zu kommen brauche“. Salgos Fazit: „Die gerichtliche und die behördliche Praxis in Deutschland wie auch die jüngste Gesetzgebung schenkt — nicht nur im Umgangskontext — den Umständen ,Häusliche Gewalt’ und ,Traumatisierung’ noch längst nicht die erforderliche Aufmerksamkeit.“ Insbesondere das Miterleben von häuslicher Gewalt wurde und werde zu wenig beachtet.

Seit 2013 können sich betroffene Frauen, aber auch Angehörige und Freunde beim bundesweiten Hilfetelefon Unterstützung holen. Bereits im ersten Jahr wurden über 18.000 Beratungsgespräche geführt. Im Umfeld des SAT.1-Films wählten 450 Hilfesuchende die in Trailern und Einblendungen kommunizierte Telefonnummer. Die Hotline gehört zum Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. „Frauen müssen wissen, dass sie anonym Hilfe und Unterstützung bekommen können“, betont Familienministerin Manuela Schwesig. Um mehr Öffentlichkeit für das Tabuthema zu schaffen, seien Filme wie „Die Ungehorsame“ wichtig. „Es ist immer gut zu wissen, dass es auch anderen Frauen so ergehen kann und dass man nicht daran Schuld ist!“

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Jede fünfte Frau in Deutschland
hat körperliche Gewalt durch einen Partner erfahren

Jede fünfte Frau in Deutschland (Icons)Jede fünfte Frau in Deutschland (Icons)
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Jede zweite Frau
erlebte eine Form der psychischen Gewalt

Jede zweite Frau (Icons)Jede zweite Frau (Icons)

»FRAUEN MÜSSEN WISSEN, DASS SIE ANONYM HILFE UND UNTERSTÜTZUNG BEKOMMEN KÖNNEN.«
MANUELA SCHWESIG

Quelle: European Agency for Fundamental Rights

Frauenhäuser müssen jährlich rund 9.000 Betroffene abweisen

Trotz deutlicher Verbesserungen der Beratungs- und Hilfestruktur besteht weiterer Handlungsbedarf. Der schnelle und unbürokratische Schutz in einem Frauenhaus steht längst nicht jeder Frau offen. Besonders in Großstädten und Ballungsgebieten sind die Frauenhäuser voll belegt bis überfüllt, jährlich müssen rund 9.000 Frauen wegen Überfüllung oder aus Finanzierungsgründen abgewiesen werden.

Miriam hatte Glück. Nach einer lebensbedrohlichen Attacke fand sie für sich und die Kinder sofort Zuflucht in einem Frauenhaus. Und sie konnte hier in Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen Alternativen für ein eigenständiges Leben entwickeln. Der Name, den ihre Kinder dem neuen Aufenthaltsort gaben, sagt alles: Für sie ist es „das Urlaubshaus“. <

Frau am Telefon (Foto)
Ein erster Schritt

Hinsehen hilft: „Dank der Kooperation mit SAT.1 und der Einbindung des Hilfetelefons in die redaktionelle Berichterstattung zum Film ,Die Ungehorsame’ konnten wir sehr viele gewaltbetroffene Frauen und Personen aus ihrem Umfeld erreichen“, sagt Petra Söchting, Leiterin des „Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen“. Binnen drei Tagen wählten 450 Personen – gewaltbetroffene Frauen wie auch Menschen aus dem sozialen Umfeld – die in Trailern und Einblendungen kommunizierte Nummer 08000-116016.

Als erstes bundesweites Beratungsangebot informiert, unterstützt und berät die beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben angesiedelte Hilfe-Hotline seit drei Jahren per Telefon, E-Mail und Chat zu allen Formen von Gewalt, anonym und kostenlos, rund um die Uhr und in 15 Sprachen. 2015 wurde das Hilfetelefon rund 55.000-mal kontaktiert, die Zahl der Kontakte war damit 11 Prozent höher als im Vorjahr.

www.hilfetelefon.de